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Aktuelles

28.12.2018 | Laudatio

Verleihung der Carl-von-Ossietzky-Medaille am 16.12.2018 in Berlin

Karl Finke

Bundesvorsitzender von Selbst Aktiv, der Arbeitsgemeinschaft behinderter Menschen in der SPD

Präsident des Behinderten-Sportverbandes Niedersachsen

"Sehr geehrte Mitglieder des Vorstandes,

geschätzte Mitstreiterinnen und Mitstreiter für Menschenrechte und

menschenrechtsbasiertes Handeln,

lieber Ottmar,

heute, am Sonntag nach dem Internationalen Tag der Menschenrechte, dem 10. Dezember jeden Jahres, haben wir die besondere Ehre zwei Personen zu würdigen, die sich in hervorragender Weise, mit Engagement und Zivilcourage für den Erhalt, die Stärkung und die Weiterentwicklung der Menschenrechte in ihrem jeweiligen Umfeld einsetzen. Dies für ihr Engagement für die kurdischen Bürgerinnen und Bürger in der Türkei, Leyla Imret, sowie für den Ausbau und die Stärkung einer menschenrechtsbasierten Politik in Deutschland, Ottmar Miles-Paul.

Mit dieser Doppelauszeichnung wird ein deutliches Signal zur Stärkung und zum Ausbau sowie der Verwirklichung von Menschenrechten sowohl im Zusammenleben in Deutschland wie auch im Ausland gesetzt. Auch die Benennung einer Person mit Migrations-hintergrund sowie eines Menschen mit einer Behinderung wendet sich gegen eine asymmetrische Betrachtungsweise und macht den Schutz und die Förderung unterschiedlicher benachteiligter Bevölkerungsgruppen deutlich.

Das Denken und Handeln von Ottmar möchte ich analog zu einer WDR-Radio-Sendereihe der 70er und 80er Jahre des vorigen Jahrhunderts mit „barfüßigem Denken“ bezeichnen. In meiner Erinnerung passt dieser damals verwendete Titel eines Features zu Arbeit und Entfremdung in der Arbeitswelt gut zu Ottmar Miles-Paul. Der Begriff hat sich leider nicht etabliert, wie eine aktuelle Internetrecherche ergab, doch ich kann ihn hier heute mit neuer Bedeutung füllen.

Ottmar Miles-Paul begleitet seit Ende der 80er Jahre die gesellschaftliche Entwicklung in Deutschland mit wachem Verstand, analytischem Denken und hieraus folgernd, konkreter Initiative und Handeln. Dies stets eingebunden, vernetzt und abgeleitet aus dem Umfeld, in dem er jeweils agiert hat. Kontakte pflegend, mit uns Menschen mit Behinderungen stets verbunden bleibend und durch einen breiten Austausch zu gemeinsamen Handeln kommend. Er weiß, wie er die Bodenhaftung nicht verliert, in der Sprache uns behinderten Menschen verständlich bleibt und aus dem solidarischen Denken zur gemeinsamen politischen Bewegung kommt. Dieses macht zumindest „barfüßiges Denken“ à la Ottmar Miles-Paul aus. Frei nach Karl Marx hat er nicht die Philosophie vom Kopf auf die Füße gestellt, sondern mit Kopf und den Füßen Ziele definiert und politische Bewegungen organisiert. Dies ist Demokratieentwicklung von unten.

Er ist sehbehindert und hat auch eine entsprechende Laufbahn an einer Sehbehindertenschule durchlaufen. Eine seiner Triebfedern ist, sich mit allen Sinnen die Welt zu erschließen und im solidarischen Miteinander mit uns Menschen mit Behinderungen und demokratisch gesinnten Bürgerinnen und Bürgern, wie z. B. dem 5-Uhr-Club in Hannover, Gesellschaft weiterzuentwickeln.

Im Wesen stets freundlich, in der Sache klar. So hat Ottmar seit Ende der 90er Jahre Themen platziert und Kampagnenfähigkeit in der neuen Behindertenbewegung der BRD mit initiiert. Bei gemeinsamen Aktionen lernte ich seine klare zielführende Art erstmals kennen. So organisierte er in seiner Heimatstadt Kassel zentrale Aktionen und Demonstrationen der damals neuen Behindertenbewegung und etwas später bundesweit die Europäischen Aktionstage zur Gleichstellung behinderter Menschen, am 5. Mai. Ein Vorläufer waren spektakuläre Aktionen der Krüppelbewegung Ende der 80er Jahre. Mit Ottmar und vielen anderen wuchs auf dem neuen Selbstbewusstsein aufbauend die Selbst-bestimmt-Leben-Bewegung in Deutschland. Sie entwickelte sich nach und nach zum bundesweiten Sprachrohr politisch fortschrittlicher Menschen mit Behinderung.

Anfang der 90er Jahre brachten sie unter anderem eine bundesweit angelegte Initiative zur Verfassungsergänzung im Rahmen der Neuverabschiedung des Grundgesetzes auf den Weg. In der damaligen Bund-Länder-Verfassungskommission war ein Passus zum besonderen Schutz von Menschen mit Behinderungen an der erforderlichen Zweidrittelmehrheit gescheitert. Die Kampagne der Selbst-Bestimmt-Leben-Bewegung gegenüber Bundestagsabgeordneten, eine breite Wählerinitiative, sowie die bundesweite Kampagne gegen Gewalt gegen Menschen mit Behinderungen, Obdachlose, Migrantinnen und Migranten sowie Homosexuelle forderten gut vernetzt eine Verfassungsergänzung. Nach kreativen regionalen und überregionalen Demonstrationen und Aktionen kam es dann zu dem historischen Erfolg und der im Bundestag verabschiedeten Verfassungsergänzung im Jahr 1994. Dieses klare Signal zur Eigenmacht und Selbstvertretung behinderter Menschen wurde schon damals von der Liga für Menschenrechte aufgegriffen und stellvertretend für alle aktiven behinderten Menschen der heutige Laudator mit der Carl-von-Ossietzky-Medaille ausgezeichnet. Auch der damalige Bundespräsident von Weizsäcker hatte mit Bezug auf die Anti-Gewalt-Kampagne aus Niedersachsen die Verfassungsergänzung gefordert und somit zum Umdenken bei den Fraktionen beigetragen.

Erkenntnis für uns war seinerzeit „wenn von unten von uns Menschen mit Behinderungen kein Druck kommt, kommt oben nichts an“. Dies war auch in der Folge kennzeichnend für eine Open-Air-Pressekonferenz auf den Treppen des Berliner Reichstagsgebäudes. Hierfür wurden die nächsten Ziele der politischen Behindertenbewegung definiert: ein Antidiskriminierungsgesetz und Gleichstellungsgesetze auf Bundes- und Länderebene. Außerdem nach dem Motto „wenn wir selbst im Bundestag nicht vertreten sind, dann organisieren wir unsere Aktionen eben auf den Treppen des Reichstagsgebäudes. Bei den jeweiligen Aktionen konnte ich als Teil politisch aktiver Menschen zusammen mit vielen aus unserem gemeinsamen Umfeld mitwirken.

Zentrales Kommunikationsorgan für die aktiven behinderten Menschen in Deutschland wurde und ist bis heute das von Ottmar Miles-Paul mitinitiierte Nachrichtenmagazin Kobinet-Nachrichten - ein Nachrichtenträger weit über die aktive Behindertenszene hinaus. Auch während seiner Zeit als Landesbehindertenbeauftragter postete Ottmar Miles-Paul in Rheinland-Pfalz als aktiver Redakteur so manche Nachricht. Seine ehemalige Sozialministerin und heutige Ministerpräsidentin, Malu Dreyer, hat die Arbeit von Ottmar stets positiv begleitet. Sie hat in einem eigenen, hier bereits gehörten Grußwort ihre Freude über die Auszeichnung und die Bedeutung der Liga für Menschenrechte hervorgehoben. Menschenrechtspolitik spielt man mit Bande. So wurde beim Treffen der Landesbehindertenbeauftragten in Mainz im Jahre 2012 eine Initiative aus Hannover zur Novellierung des Wahlrechts zugunsten behinderter Menschen thematisiert. Malu Dreyer hat diese Forderung, kurz bevor sie dann Ministerpräsidentin wurde, aufgegriffen und durch die Bundesratsinitiative 48/13 in die politische Diskussion eingebracht. Jetzt steht die Wahlrechtsnovellierung im Sinne behinderter Menschen kurz vor der Umsetzung. Politik braucht eben einen langen Atem. Wenn erforderlich, eben generationenübergreifend.

Ottmars und unsere Ziele, politische Mitentscheidung und Augenhöhe mit anderen gesellschaftlichen Entscheidern hatten ihren ersten Durchbruch bei dem Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderungen, im Jahr 2003. Hier lautete das Motto „nichts über uns ohne uns“ – frei interpretiert als alles mit uns. Die aktive Behindertenszene hat dieses Jahr vom Start bis zum Ende engagiert begleitet und ihre Forderungen nach Barriere-freiheit, voller gesellschaftlicher Teilhabe und Mitentscheidung zum Mantra dieses Jahres gemacht. Als Akzent hat Ottmar Miles-Paul bei Kobinet eine kleine Aktion gestartet, um das Bewusstsein behinderter Menschen für ihre Rechte zu stärken. Er hat eine Online basierte Bürgerwahl zum Courage-Preis ausgerufen, mit dem Ziel, die couragiertesten Menschen mit Behinderungen im deutschsprachigen Raum auch entsprechend zu platzieren. Ziel war es, wie ich es gern formuliere, Menschen mit Behinderungen Gesicht und Stimme zu verleihen.

Ein weiterer weltweit bedeutender Schritt mit konkretem Bezug auf die Inhalte des Europäischen Jahres der Menschen mit Behinderungen war die im Jahr 2009 in Deutschland verabschiedete UN-Behindertenrechtskonvention, die aktuelle Menschenrechts-konvention. Diese gilt es immer noch in deutsches Recht zu überführen. Einbezogen war und ist die gesamte aktive Behindertenszene in Deutschland. Die langjährigen Forderungen wurden damit Kernaussagen der UN-Behindertenrechtskonvention und Messlatte für menschenrechtsorientierte inklusive Politik. Als Teil dieses Prozesses und in privilegierter Stellung war Ottmar hier - wie stets - präsent. Dies auch insbesondere als Motor und Koordinator der Behindertenszene. Die Umsetzung der Konvention führte auf vielen Ebenen zu „bleiernen“ Prozessen, die aber unverzichtbar sind, wenn ein komplexes, bestehendes System in Deutschland oder anderen Ländern neu aufgestellt und umorganisiert und im Sinne der Mündigkeit behinderter Menschen weiter entwickelt wird. Sie sind ein Vorhaben, das eine Generation weit überschreitet. Dieses Vorhaben in seiner Größe lässt sich nur in einigen Aspekten mit dem für eigenständige Wohn- und Lebensformen und zur Entflechtung der Heime unter dem Motto „reißt die Mauern nieder“ vergleichen. Bei beiden gilt es, gesellschaftliche Mauern und eingefahrene Machtstrukturen, bis hin zu den gläsernen Decken aufzubrechen und im Sinne behinderter Menschen umzugestalten.

Aufgabe ist es jetzt, in der Achsenbildung zwischen alten Hasen und jungen Füchsen die nächsten zehn Jahre zu entwickeln. Nach dem Projekt „Reißt die Mauern nieder“ reichen Ottmar Miles-Pauls Projekte weit ins nächste Jahrzehnt. So hat er zur strukturellen Stärkung und Erneuerung des Verbandswesens in Deutschland die Liga Selbstvertretung behinderter Menschen gegründet. Zentral für Ottmar Miles-Paul ist die Stärkung der Eigenmacht behinderter Menschen. Hierzu hat er diese Liga mit initiiert und bringt so mehr Demokratie in den verbandlichen Diskurs. Hier sind Behindertenorganisationen und Selbsthilfeverbände zusammen geschlossen, die von behinderten Menschen selbst geleitet werden. In diesem geistigen Zusammenhang hat sich in Niedersachsen bundesweit auch das Forum Artikel 30 – Inklusion in Kultur, Freizeit und Sport gegründet. Ein Zusammenschluss von sieben Behindertenverbänden und -organisationen, sowohl aus dem Bereich der Wohlfahrts- wie auch der Sportverbände, die die wechselseitigen zwischenverbandlichen Gräben zuschütten und die Eigenmacht und Selbstvertretung behinderter Menschen nach innen und nach außen gegenüber Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen sowie der Gesellschaft wahrnehmen. Unter der Gesamtkoordinierung des Behinderten-Sportverband Niedersachsen (BSN) sind dies Special Olympics Niedersachsen (SON), der Gehörlosen-Sportverband Niedersachsen (GVN), der Sozialverband Deutschland (SoVD), der Blinden- und Sehbehindertenverband Niedersachsen (BVN), der Bundesverband Selbsthilfe Körperbehinderter BSK sowie die VHS Hannover als Bildungsträger.

Ottmars persönliche Ausstrahlung und Fachlichkeit begründet seine verbandsübergreifende Akzeptanz sowohl im Selbsthilfebereich, wie auch gegenüber der allgemeinen gesellschaftlichen Öffentlichkeit. Konkret bedeutet die arbeitsintensive und trockene Materie mit viel demokratischer Substanz zu füllen und Aktionspläne zur Umsetzung der UN-BRK und Teilhabegesetze auf Bundes- und Länderebene, Planungen für ein inklusives Bildungs- und Arbeitsleben und barrierefreie Lebenswelten zu schaffen. Dies alles unter qualifizierter Mitentscheidung von uns Menschen mit Behinderungen. Im Verbund mit „barfüßigem“ Denken, politisch klarem Kopf und entgegen vielfältiger Gegenströmungen muss es im Rahmen zukunftsorientierter Politik vorangebracht werden.

Jetzt, 70 Jahre nach Verabschiedung der UN-Menschenrechtserklärung, 15 Jahre nach dem Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderungen, sowie 10 Jahre nach Verabschiedung der UN-BRK sind unsere Ziele längst erwachsen, längst überfällig und müssen gemeinsam erstritten werden. Heute hier anwesend sind Aktive aus der Behinderten-szene und Freunde zukunftsorientierter Menschenrechtspolitik. Ich bin stolz darauf, dass Du Ottmar, heute die Carl-von-Ossietzky-Medaille der Liga für Menschenrechte erhältst. Du bist einer derjenigen, die die Fackel von Inklusion und Partizipation über Deutschland hinaus hochhalten, fest mit uns verankert sind und gemeinsam mit uns demokratische Politik betreiben. Wir sind stolz auf Dich und danken der Liga für Menschenrechte, dass sie jetzt erneut einen Menschen mit Behinderung mit der Carl-von-Ossietzky-Medaille auszeichnet. Hiermit trägt diese auch zur Weiterentwicklung von Menschenrechtspolitik und den Rechten behinderter Menschen sowie aller ausgegrenzter Bürgerinnen und Bürger bei und setzt einen deutlichen Akzent.

Lieber Ottmar, lass Dich in alter Freundschaft umarmen – aus innerstem Herzen!

Du hast diese Auszeichnung verdient!

Du machst uns allen Mut!

Wir sind stolz, Dich in unseren Reihen zu haben!"